Gewaltverbrechen – ein Menschenrecht?
So könnte man das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zusammenfassen.
Eine rückwirkend angeordnete Sicherungsverwahrung (beispielsweise bei nachträglich festgestellter anhaltenden Gefährdung Unschuldiger) ist demnach so dermaßen unzulässig, dass die Bundesregierung jetzt einem mehrfachen Gewalttäter 50.000,- € Schmerzensgeld zahlen muss. Das Urteil ist rechtskräftig.
ntv berichtet
Deutschland muss einem 52-jährigen Mann 50.000 Euro zahlen, weil er nachträglich zu einer Sicherungsverwahrung verurteilt worden war. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg lehnt einen Widerspruch gegen das entsprechende Urteil ab und macht es damit rechtskräftig.
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Der Fall werde nicht zur Überprüfung an die große Kammer des Gerichts verwiesen, das Urteil sei damit definitiv, teilte eine Sprecherin mit. In dem erstinstanzlichen Urteil waren die Straßburger Richter zu dem Schluss gekommen, dass Deutschland im vorliegenden Fall gegen das Grundrecht auf Freiheit und das Verbot rückwirkender Strafen verstoßen hat. Sie wiesen die Bundesregierung an, dem Kläger R.M. – einem mehrfach verurteilten Verbrecher – 50.000 Euro Schmerzensgeld zahlen.
Der 52-Jährige Kläger war in Deutschland wiederholt wegen Gewaltverbrechen verurteilt worden. Zuletzt wurde er 1986 wegen versuchten Raubmordes zu fünf Jahren Haft verurteilt, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Diese war damals auf zehn Jahre begrenzt – R.M. hätte demnach am 8. September 2001 auf freien Fuß gesetzt werden müssen.
Seine Sicherungsverwahrung wurde aber im Frühjahr 2001 auf unbestimmte Dauer verlängert. Grundlage dafür war eine Änderung des Strafgesetzbuchs aus dem Jahre 1998, mit der die Höchstdauer der Sicherungsverwahrung aufgehoben wurde. Seither können als besonders gefährlich eingestufte Verbrecher auf unbegrenzte Zeit inhaftiert werden.
Diese Praxis wurde im Februar 2004 vom Bundesverfassungsgericht gebilligt. Die Karlsruher Richter befanden, die Sicherungsverwahrung sei keine Strafe, sondern eine “Maßregel zur Besserung und Sicherung”. Daher sei das Rückwirkungsverbot für Strafen hier nicht anwendbar.
Dem widerspricht der Gerichtshof für Menschenrechte in dem nun rechtskräftigen Urteil: Der Kläger sei in einem gewöhnlichen Gefängnis untergebracht, seine Sicherungsverwahrung sei ein Freiheitsentzug und somit eine Strafe. Daher gelte das Rückwirkungsverbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention (“Keine Strafe ohne Gesetz”). Die rückwirkend verfügte dauerhafte Sicherungsverwahrung verletze außerdem das Grundrecht auf Freiheit.
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Die Bundesregierung müsse nun dem “rechtskräftig festgestellten rechtswidrigen Zustand” der Inhaftierung seines Mandanten ein Ende setzen, forderte der Strafrechtler Schroer. Er habe diese Forderung bereits an die zuständige Staatsanwaltschaft in Marburg gerichtet, sagte er. Deutschland habe sich zur Umsetzung der Straßburger Urteile verpflichtet. R.M. sitzt derzeit im Gefängnis im hessischen Schwalmstadt ein.